Je höher der Sitz zu Pferde, desto dünner das Stimmchen, das ‚unten‘ ankommt. Polemik und Diskurs werden schnell verwechselt. Facebook ist ein Sammelsurium denkwürdiger Aussagen. Manchmal provozieren sie sogar eine Antwort…

Ein Facebookler veröffentlichte vor Kurzem folgende Statusnachricht:

„Das Wort „Artgerecht“ ist echt toll, ein Wort das nur imaginär vorhanden ist, denn artgerecht gibt es nicht, da nur die Freiheit wirklich alle Bedürfnisse erfüllt, wie kann denn etwas artgerechter sein??? Ein Wort was von einer Bande Verbrecher geschaffen worden ist, nämlich der Tierhaltungsindustrie…!“

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Normaler Weise ignoriere ich diese eher platten Worthülsen ohne nennenswerten Inhalt genau so wie den Durchschnittsinhalt sozialer Netzwerke wie: ‚Mist. Noch drei Stunden bis Feierabend. Der Chef nervt und der Kaffee ist auch alle‘ – Professor Gernot Wersig, Informationswissenschaften an der FU Berlin, nannte diese Art der Nichtkommunikation sehr treffend ‚Soziales Grundrauschen‘

Manchmal aber reitet mich das Teufelchen und ich reagiere – bar jeder Vernunft. Ich schrieb:

„Wer so argumentiert, kann nicht ganz bei Trost sein, sorry. Artgerecht ist ein Begriff, der von der Wissenschaft – nicht der Nahrungsforschung by the way – geschaffen wurde, um jeweils ein Lebensumfeld für jede Tierart zu definieren, dass es ermöglicht, diese in Gefangenschaft möglichst naturnah zu halten. Das im Übrigen, um diese Arten auch zu erhalten. Das wiederum ist nötig, da der Mensch an sich immer mehr Lebensraum verbraucht und damit Tieren entzieht. Wozu interessanter Weise auch Landwirtschaft für Veganer gehört.

Genau so ‚imaginär‘ sind Worte wie Freiheit, Glück, Sicherheit und viele andere, die jeweils einen Zustand beschreiben, der sehr individuell erlebt, beschrieben und definiert wird. Diese Art des Hau drauf-Agitprop ist allenfalls niedlich und hat bestimmt an den Stammtischen der Hafenstraße noch ein wenig Gewicht – aber auch ein Pflasterstein(chen) am 1. Mai gibt noch nicht Recht…
Ich schäme mich gerade ein wenig, weil ich mich mit so einem Ideologie-Dünnschiss überhaupt auseinandersetze… SORRY“

Inhaltlich passierte als Antwort nichts, nur eine Anfrage, auf wen sich denn mein Beitrag beziehe. Gute Frage. Für alle jedenfalls, die meinen Beitrag nicht wirklich gelesen haben. Also stellte ich das mit erweitertem Bezug klar:

„Mein Beitrag wendet sich an *********’s kleine Polemik in Sachen ‚artgerecht‘ – hätte sich aber aus dem Inhalt von selbst ergeben…

Mir fiel in dem Zusammenhang eine nette Mail eines – nicht artgerecht lebenden – Veganers ein, der (nur konsequent) der Meinung war, dass auch alle Hunde und Katzen getötet werden müssten, da für sie schließlich auch ein ‚Mordauftrag‘ an die Fleisch verarbeitende Industrie gegeben werden würde, um diese halten zu können. Was wiederum bedeuten würde, dass dann natürlich auch wieder Tiere getötet werden würden, was wiederum bedeuten würde, dass man dann ja auch gleich Fleisch… – und so weiter. Meine TA erzählte mir neulich, dass sie immer wieder mal völlig entkräftete Katzen auf den Tisch bekäme, deren Verfall sich keiner erklären konnte – bis der dezente Hinweis kam, dass diese bedauerlichen Geschöpfe von ihren vegan lebenden Haltern ebenfalls vegan ernährt wurden.Was ich immer mehr in Diskussionen, Geisteshaltungen und Lebensformen vermisse, ist das Maßhalten. Schwarz-weiß, gut-böse, 1-0, eine rein binäre Vorstellungswelt breitet sich aus. Das beinhaltet eine Lager-, eine Wagenburgmentalität, alle, die ‚draußen‘ sich aufhalten, sind automatisch Feinde und gehören verunglimpft, verhöhnt und angegriffen, die eigene Position hingegen ist sakrosankt und unangreifbar.

Vorteil: der lästige – weil unter Umständen Positionen verändernde oder korrigierende – Diskurs entfällt und es ist mehr Zeit übrig zum Verbreiten des eigenen Standpunkts.

Nachteil: es entfällt der unter Umständen Positionen verändernde oder korrigierende Diskurs, was eine Gesellschaft intolerant, feindselig und aggressiv werden lässt gegenüber anders denkenden und/oder anders lebenden.

Die gesunde Streitkultur ist leider vielfach einer ungesunden Polemikdiktatur gewichen.

Nur Freiheit ist artgerecht. Niedlich. Auf diesem Planeten werden in Kürze 7 Milliarden Menschen mehr oder weniger leben, davon ein Bruchteil in so genannter Freiheit. Erkläre mal einem so gesehen absolut nicht ‚artgerecht‘ lebenden Menschen, warum das ‚artgerechte‘ Leben von Tieren wichtig(er) ist. Alle diese Parolen gehen von einem paradiesischen Zustand aus, in dem eine Handvoll Menschlein Tieren die Freiheit nimmt.

Selbst rein vegane Lebensformen des homo sapiens sapiens würde enormen Flächenbedarf haben, um alle Mäuler satt zu bekommen – und damit genau so Tiere in ihrem Lebensraum beschränken. Macht es doch mal ne Nummer kleiner. Bietet Thesen und Entwürfe an, die sich in einem vorhandenen Umfeld realistisch darstellen lassen. Erst mal in unserem Umfeld. Dazu gehört auch das Verständnis für die eigene Kultur und Geschichte.

Die bösen Chinesen machen dies, die bösen Inuit das und und und…

Durch pauschale Verurteilungen wurde noch nie etwas erreicht. Wer den eigenen Vorgarten in Ordnung hat  und so vorbildliches leistete, kann Nachahmer finden, andere zum Kopieren und/oder Anpassen auffordern und dabei Unterstützung geben.

Diese Stammtischparolen machen mich müde und erheitern nur noch wenig…“

Womit eigentlich mein Fazit schon vorweg genommen wurde: Statt Ab- und Ausgrenzung durch Überhöhung des eigenen Standpunkts als den guten, den einzig wahren in aggressiver Polemik lieber ein offener und – vor allen Dingen – ergebnisoffener Diskurs, tolerant, auch mit Humor, sachlich und als Meinung formuliert, nicht als Faktum, wenn dies keiner ernsthaften Prüfung standhalten würde. Veränderungen sind nur aus dem Diskurs heraus möglich unter Verlassen der eigenen Wagenburg, der konsequenten Verweigerung von Lager- und Richtungsdenken. Und das ist nichts weiter, als meine Meinung. Polemik und Diskurs.

© madmarx – 01/2011

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